Grenzüberschreitende Nicht-Koordinierung

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Das Schliessen der nationalen Grenzen innerhalb der EU ist ein Reflex, nicht unbedingt das wichtigste Instrument des Gesundheitschutzes

Laut unserem Forscher Martin Unfried. Warum schließen wir unsere Grenzen, wenn wir im Gesundheitswesen zusammenarbeiten müssen? Lesen Sie sein Meinungspapier hier (auf English).

Das Schliessen der nationalen Grenzen innerhalb der EU ist ein Reflex, nicht unbedingt das wichtigste Instrument des Gesundheitschutzes

Gestern war ich in Maastricht an der belgischen Grenze, die nicht weiter als 1 km hinter meinem Haus liegt. Ich wollte es mit eigenen Augen sehen. Die Grenze war geschlossen. Die belgische Regierung hat Absperrungen aufstellen lassen, um uns nicht ins Land zu lassen. Seit 5 Jahren arbeiten wir bei ITEM daran, die vorhandenen rechtlichen und fiskalen Probleme in unserer grenzüberschreitenden Euregio abzubauen. Und jetzt ist die Grenze geschlossen. Die Strasse abgesperrt. Das ist natürlich das Gegenteil einer gelungenen euregionalen Integration.

Warum ist es so weit gekommen? Man könnte natürlich sagen, wegen des Gesundheitschutzes. Weil die Grenzschliessung hilft die Infektionszahlen einzudämmen. Das stimmt wohl nur zur Hälfte. Aus heutiger Sicht (danach ist man immer schlauer) hätte man wahrscheinlich zu einem früheren Zeitpunkt Einreisen in die EU aus verschiedenen Gegenden der Welt unterbinden sollen. Oder als die ersten Fälle auftauchten, einzelne Hotspots in der EU schneller abriegeln müssen, wie es in Italien zu spät mit dem Norden versucht wurde. Aber diese Hotspots hatten wenig mit nationalen Grenzen zu tun. Der Landkreis Heinsberg wurde lange nicht von Sittard, aber eben auch nicht vom Rest NRWs abgetrennt. Und selbst heute kommt niemand auf die Idee in Deutschland zwischen NRW und Niedersachsen die Grenze zu schliessen. Oder Bayern abzuriegeln, wo die ersten Fälle auftauchten.

Deshalb ist die Schliessung der Grenze zwischen Deutschland und Belgien im Grunde genommen nicht weniger merkwürdig. Es ist ein Ausdruck der nationalen Hilflosigkeit, weil eben andere Koordinierungsinstrumente nicht zur Verfügung stehen. Offenbar war es nicht möglich, die Beschaffung von Testmaterial und dessen solidarischen Austausch zu koordinieren, um möglichst viele Personen in den betroffenen Regionen zu testen. Es war anscheinend ebensowenig möglich frühzeitige Hilfe für Norditalien aus anderen Mitgliedstaaten zu organiseren. Deshalb stellt sich die Frage, ob Gesundheitsysteme, die komplett national ausgerichtet sind, der Herausforderung einer grenzüberschreitenden Krise gerecht werden. Man wird später analysieren können, inwieweit die EU überhaupt im Bereich der Beschaffung von Material und Beatmungsgeräten, oder der Koordinierung von Krankenhaus Kapazitäten etwas tun konnte. Die Annahme heute ist eher, dass hier Kompetenzen auf der EU Ebene fehlen. Eine weitere Vermutung: selbst eigentlich gut integrierte Nachbarn mit grenzüberschreitenden Governance Systemen wie die skandinavischen Ländern (Nordic Council) haben anscheinend in diesem Fall wenig Koordinierungsmöglichkeiten. So hat Dänemark aus Sorge um das eigene Gesundheitssystem die Grenze zum Nachbarn Schweden geschlossen. Was die Benelux in der Krise ausrichten konnte, wird man später beleuchten können, ebenso die Rolle der Euregios und der bisher gut funktionierenden Netzwerke von Krankenhäusern und Notfall-Diensten wie EMRIC in der Euregio Maas-Rhein.

Endlich gibt es in Sachen Solidarität auch gute Nachrichten: italienische Patienten werden in Sachsen versorgt und französische Patienten aus dem Elsass in Baden-Württemberg. Auch hier wird interessant sein zu untersuchen, wie das möglich gemacht wurde.

Wie begrenzt hilfreich das Schliessen von nationalen Grenzen war, zeigte das Beispiel Österreich. Dort hatte zwar die Regierung früh die Grenze zu Italien geschlossen, also auch zu Südtirol (auch Teil einer lebendigen Euregio). Doch in den zwei Skiorten im österreichischen Tirol, die wohl massiv zur Verbreitung beigetragen haben, wurden viel zu spät die Lifte abgestellt und der Zugang vom Rest Österreichs und nach Bayern aus begrenzt.

Und warum ist nun die Grenze zwischen den Niederlanden und Belgien geschlossen für alle ohne triftigen Grund? Nicht so sehr wegen der unterschiedlichen Fallzahlen in de beiden Limburgen. Sondern wohl eher wegen der fehlenden Koordinierung der nationalen Massnahmen. Als in Belgien schon bereits die Läden dicht gingen, war in den Niederlanden noch vieles möglich. Also kamen die Belgier in Scharen nach Maastricht zum Einkaufen. Und als in Belgien schon viel strengere Massnahmen galten, taten die niederländischen Tagestouristen anscheinend als betreffe sie das nicht. War das nun vorhersehbar? Eigentlich ja. Die Euregio gehört eben für viele zum normalen täglichen Leben, in dem die Grenzen eben kaum wahrgenommen werden. Wenn dann einschneidende, aber nur einseitige Massnahmen so schnell kommen, dass Informationen kaum bei den Leuten ankommen können, muss das für Probleme sorgen. Nun hat die Regierung in NRW mitgeteilt, dass es vorige Woche mit den Niederlanden und Belgien eine grenzüberschreitende Task Force gegründet hat. Das ist immens wichtig.

Das gleiche Muster der fehlenden grenzüberschreitenden Koordinierung zeigte sich in ganz Europa. Eine Grenze nach der anderen wurde geschlossen und Nachbarstaaten hatten die Massnahmen kaum abgestimmt. Es galt eher: rette sich wer kann. So kam es vor Tagen noch zu mehr als 50 Kilometer LKW-Staus an der polnischen Grenze und chaotischen Zuständen für die Fahrer. Bis heute (Stand 25.3.2020) ist anscheinend die deutsch-niederländische Grenze die einzige in der EU, an der nicht kontrolliert wird. Viele Grenzen sind komplett geschlossen wie noch vor kurzem unvorstellbar: sogar für Grenzpendler, beispielsweise die von Deutschland zu ihrer Arbeit nach Tschechien wollen.