Guest column
Im Herbst vergangenen Jahres konnten SPD, Grüne und FDP unter den Vorzeichen des Fortschritts einen Koalitionsvertrag verhandeln. Am Ende stand ein Vertrag, der für Aufbruch in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik steht. Nach 16 Jahren Union sehe ich in der Ampel in großen Teilen die dringend notwendige Liberalisierung, die unser Land und Europa brauchen. Ganz besonders in der Gesellschaftspolitik, in der die Ampel für Selbstbestimmung und freie Entfaltung steht. Besonders zuversichtlich stimmt mich auch der Blick etwa auf die Einführung einer Aktienrente, die Rückkehr zu solider Haushaltspolitik und den Fokus auf Bildung als Möglichmacher.
Doch nur wenige Wochen nach der Amtsübernahme der neuen Bundesregierung wurden wir von der Realität überholt. Die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland sind leider in das Szenario übergegangen, das fast alle in Europa versuchten zu vermeiden. Die russische Invasion in die Ukraine verändert die Diskussion über Sicherheit fundamental. Mit Blick auf die Arbeit der noch nicht einmal 100 Tage alten Bundesregierung rücken damit nicht nur verteidigungspolitische, sondern auch energiepolitische Fragen in den Fokus.
Auch ohne die Gaspipeline Nord Stream 2 ist Russland bisher der mit Abstand größte Erdgaslieferant Deutschlands. Mehr als die Hälfte des importierten Gases stammen von dort. Die Niederlande sind nach Norwegen der drittgrößte Lieferant. Die ehrgeizigen Ziele des Koalitionsvertrags und der Konflikt mit Russland zeigen ein Spannungsfeld in der grenzüberschreitenden Energiezusammenarbeit auf. Während die Bedeutung des Gasimports für Deutschland aus dem EWR-Raum steigt, planen die Niederlande die Gasförderung aus großen Erdgasfeldern herunterzufahren.
Die Erfahrungen mit Erdbeben in Groningen führen zu Ängsten der dortigen Bewohner über die Sicherheit ihrer Heimat. Gleichzeitig ist aus deutscher Perspektive die Einhaltung der vertraglichen Verpflichtungen in den vergangenen Tagen besonders wichtig geworden. Umso bedeutsamer wird daher die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Blick auf die Erschließung kleinerer Felder sowie dem Bau von Terminals für und dem Transport von LNG. Diesbezüglich erkennt auch der Koalitionsvertrag die Bedeutung von Gas zur Sicherung der Versorgung während der Energiewende an.
Nicht nur steigende Energiepreise belasten die europäischen Partner die nächsten Monate, auch Inflation und die Sanktionen gegen Russland. Da werden die Verlockungen einer kurz- bis mittelfristigen, lockeren Schuldenpolitik immer größer. Umso wichtiger ist es für die beiden Partner solider Haushaltspolitik, Niederlande und Deutschland, auch auf europäischer Ebene weiter vertrauensvoll zusammenzuarbeiten. Mit diesem Wunsch möchte ich nach den düsteren Tagen enden: Deutschland und die Niederlande müssen und werden, so hoffe ich, ihre intensive Zusammenarbeit entlang der gemeinsamen Grenze, in Europa und in der Welt fortsetzen.
Otto Fricke, MdB Member of Deutscher Bundestag